Alte Instrumente, neuer Ton: Mahlers 9. Sinfonie erstmals im Originalklang (2024)

Eine Einspielung der 9.Sinfonie von Gustav Mahler auf Instrumenten aus der Entstehungszeit stellt die zu gemütlich gewordene Mahler-Interpretation auf den Kopf.

Michael Stallknecht, Toblach

7 min

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Alte Instrumente, neuer Ton: Mahlers 9. Sinfonie erstmals im Originalklang (1)

«Etwas täppisch und sehr derb», schrieb Gustav Mahler über den zweiten Satz seiner 9.Sinfonie, eine Mischung aus Ländler und Walzer. In vielen Aufführungen bringt der ungewohnte Einbruch von Volkstümlichkeit das klassische Konzertpublikum zum Schmunzeln. Doch hört man ihn in der Neueinspielung mit dem Mahler Academy Orchestra unter dem Dirigenten Philipp von Steinaecker, dann weiss man, was das heisst: sehr derb.

Denn hier geht es zu wie auf dem Münchner Oktoberfest, wenn schräge Volksmusik-Nachmittage ab dem fünften Liter Bier zur Orgie ausarten. Alles kreischt und kreist und tobt, die Klarinetten schrillen, das Cello taumelt dazwischen, eine einsame Posaune versucht auch ihr Glück. Steinaeckers radikale Sicht auf ein vermeintlich längst klassisch gewordenes Werk hat bereits viel Aufsehen erregt. Tatsächlich könnte diese Interpretation zu den wenigen gehören, die man einmal richtungsweisend nennen wird.

Am Ort der Entstehung

Philipp von Steinaecker wartet an einer unscheinbaren Holzhütte im Grünen, eine halbe Gehstunde ausserhalb von Toblach in Südtirol. Der Dirigent zeigt in die Ferne, ins Blau, das zwischen dem zackigen Gestein der Dolomiten hervorleuchtet: «Allüberall und ewig blauen licht die Fernen!», wie es am Schluss im «Lied von der Erde» heisst, dem Werk, das Gustav Mahler hier in seinem eigens errichteten «Komponierhäusl» entwarf, direkt vor der Neunten von 1909. Ganz in der Früh kam er dafür täglich vom benachbarten Trenkerhof herüber, wo er seit 1908 mit seiner Frau Alma die Ferien verbrachte: um die Musik zu komponieren, für die ihm unterm Jahr wegen seiner Verpflichtungen als Dirigent keine Zeit blieb.

Alte Instrumente, neuer Ton: Mahlers 9. Sinfonie erstmals im Originalklang (2)

Musik, in der es um alles gehen sollte, um Gott und die Welt, um das Volkstümliche und das Metaphysische, um die Natur und die Frage, warum im ewigen Kreislauf des Lebens stets das eine in das andere fliesst, das Leben in den Tod und umgekehrt. Gewaltige Sinfonien, die Mahlers Zeitgenossen in der spätbürgerlichen Epoche vor dem Ersten Weltkrieg oft befremdeten, die aber inzwischen zu den meistgespielten überhaupt gehören. Manche behaupten mittlerweile sogar: zu den zu viel gespielten. Denn die Eingemeindung ins Repertoire führte dazu, dass die Ecken und Kanten dieser Musik nach und nach abgeschliffen wurden.

Was da verlorengegangen ist, kann man jetzt in der Aufnahme hören, die im nahen Toblach entstanden ist. Schon zu Beginn, im ersten Satz: Ein wohliges, gleichwohl gefährdetes Urbehagen breitet sich da aus, als werde kreissend und stöhnend eine Welt geboren, im Blöken der Hörner, den Lustseufzern der Streicher, rau wie das Gestein der Dolomiten. Ihren Ursprung hat Steinaeckers Revision des Klangbildes in einer Bewegung, die schon manchem Klassiker zu neuer Vitalität verholfen hat: in der historisch informierten Aufführungspraxis, also dem Spiel auf der Basis der Quellen einer Epoche und den Instrumenten ihrer Zeit.

Für das 17. und 18.Jahrhundert ist sie in Originalklang-Ensembles längst etabliert und vielerorts auch in die Spielpraxis traditioneller Sinfonieorchester eingewandert. In jüngerer Zeit wird sie aber auffallend häufig auf die schweren romantischen Brocken übertragen. So werkelt Concerto Köln, eigentlich ein Barockensemble, gerade an Richard Wagners «Ring des Nibelungen», neuerdings auch an den Sinfonien Anton Bruckners. Demnächst erscheint zudem eine Neueinspielung von Bruckners Vierter mit dem Originalklang-Ensemble Anima Eterna Brugge unter Pablo Heras-Casado.

Geprägt von Claudio Abbado

Dass Steinaecker die Methode nun auf Mahlers Musik aus dem frühen 20.Jahrhundert anwendet, ist auch biografisch inspiriert. Als Cellist gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des Mahler Chamber Orchestra und spielte unter Claudio Abbado, dem Mentor des Ensembles, in dessen Mahler-Zyklus mit dem Lucerne Festival Orchestra. Inspiration gewann er zugleich aus der Arbeit im Orchestre Révolutionnaire et Romantique von John Eliot Gardiner, der sich mit dem Ensemble bereits nachdrücklich ins 19.Jahrhundert vorgewagt hatte.

Vor zehn Jahren hat Steinaecker von Abbado die Stelle des künstlerischen Kurators der Mahler Academy in Bozen übernommen, die von der Busoni-Mahler-Stiftung getragen wird. Ihre Studenten stellten nun auch den Grundstock für das Projekt mit der Neunten. Dafür konsultierte Steinaecker zuerst die historischen Quellen, Berichte etwa über den Unterricht des Geigers Joseph Joachim im späten 19.Jahrhundert und frühe Tondokumente, unterstützt vom Musikwissenschafter Clive Brown, der mit seinem Buch «Classical and Romantic Performing Practice 1750–1900» ein Grundlagenwerk vorgelegt hat.

Konkrete Aufschlüsse über das Mahler vorschwebende Klangbild lieferte die Korrespondenz der Wiener Hofoper. Zwischen 1897 und 1907 war Mahler deren Direktor und liess während dieser Zeit alle Blech- und Holzblasinstrumente neu anschaffen. Doch wie sollte man genau solche Instrumente wiederfinden? Im Internet, auf spezialisierten Plattformen und manchmal sogar bei Ebay trieb Steinaecker Exemplare mit ähnlichen Seriennummern oder ähnlicher Bauweise auf. Bei den damals noch üblichen Holz-Querflöten ging das relativ leicht, schwieriger wurde es bei Harfen, Hörnern oder Posaunen. Letztere kamen in einer Pappschachtel von einer österreichischen Blaskapelle, anderes aus Familien, wo die Enkel die abgelegten Instrumente ihrer Grossväter malträtierten.

«Immer am Limit»

Es sind allesamt Instrumente, die weniger glatt ins Ohr gehen als ihre heutigen Verwandten; die dafür individueller klingen, auch charakteristischer – besonders da, wo Mahler sie, wie oft, unkonventionell kombiniert. Ein Abgrund von Einsamkeit reisst auf, wenn in der Aufnahme eine Flöte in höchster Lage über einem Horn schwebt. «Mahler ist jemand, der immer am Limit schreibt», erklärt Steinaecker. Sprich: jene Lagen nutzt, in denen sich die Musiker seiner Zeit noch abmühen mussten, während sie sich heute leichter realisieren lassen, bedingt durch bessere Materialien, andere Spielweisen oder zusätzliche Klappen bei den Holzbläsern.

Wahrscheinlich ist es jedoch genau die Mühelosigkeit, die die Musik glatter wirken lässt, als sie gemeint ist. «Man macht es perfekt und angenehm», sagt Steinaecker, «und Stück für Stück gehen dadurch bestimmte Schönheiten verloren.» Die erwähnten Seufzer etwa kommen zustande, weil die Geiger damals den Lagenwechsel meist nicht kaschierten, sondern auskosteten, fachsprachlich: mit Portamento spielten.

Steinaecker schlägt in der Partitur den Beginn des vierten Satzes auf: «Grosser Ton» steht da über einem Streicherchoral, aber auch «piano», leise. Die scheinbar widersprüchliche Angabe verleitet moderne Streicher dazu, die Stelle mit viel Vibrato zu spielen, was dem Klang Dichte und verführerische Süsse gibt. Mahler aber, so ist Steinaecker überzeugt, wollte hier einen «keuschen Klang», einen dringlichen Ton ohne Erotik und damit auch ohne Vibrato: Der letzte Satz der Sinfonie stellt die Frage nach Gott. Das Vibrato wurde seinerzeit ohnehin nicht fortwährend eingesetzt, sondern als bewusstes Stilmittel, angepasst an den gewünschten Ausdruck. Für das Konzert, auf dem die Aufnahme basiert, hat Steinaecker mit einem eigenen System in jeder Streicherstimme notiert, wie viel er jeweils für angemessen hält.

Flexibilität beim Tempo

Wir sind unterdessen dort angekommen, wo die Aufführung stattgefunden hat im September 2022: im ehemaligen Grand-Hotel von Toblach nahe dem Bahnhof, gebaut für den ersten Tourismusschub in den Dolomiten. Mahler ist hier nie abgestiegen, aber er wanderte oder fuhr am Abend mit dem Rad hierher, wenn Besuch kam, etwa sein Adlatus Bruno Walter oder der Kollege Richard Strauss. Von Walter ist die erste Gesamtaufnahme der Neunten überliefert, 1938 mit den Wiener Philharmonikern – eine legendäre Einspielung, wegen der Nähe Walters zu Mahler sozusagen gesegnet mit Authentizität. Dennoch vermutet Steinaecker, dass Walter einiges geglättet haben könnte, um damalige Ohren nicht allzu sehr zu schockieren.

Schon 1999 hat man das Grand-Hotel zum «Culture Center Gustav Mahler» umgebaut. Dessen Herzstück ist ein Konzertsaal ganz aus Holz, der gerade so die riesigen Besetzungen der meisten Mahler-Sinfonien fasst. Für das Konzert mit der Neunten kamen zu den Studenten der Mahler Academy risikofreudige Profis aus grossen europäischen Orchestern hinzu. Das richtige Instrumentarium allein macht allerdings noch keine Musik. «Man muss es mit Gefühl füllen können», sagt Steinaecker, «und dabei auch ein Gefühl für das richtige Tempo entwickeln».

Dazu muss man wissen, dass das Tempo zu Mahlers Zeiten fast nie stabil war. Sondern in beständigem Fluss – wie das Leben selbst. Zu hören ist das etwa auf Mahlers einzigen Einspielungen, auf dem damals brandneuen Welte-Mignon-Klavier, dem ersten Apparat für eine mechanische Musikreproduktion. Die dort hörbare Flexibilität beim Tempo galt allerdings – und hier wird die Sache für heutige Dirigenten ungewohnt – auch für die einzelnen Orchestermusiker. Deren Instrumente heben sich nicht nur klanglich schärfer voneinander ab, sie verfolgen auch ihre Stimmen individueller, freier, teilweise abweichend vom Schlag des Dirigenten. «Mit Geometrie kommt man dieser Musik nicht bei», ist Steinaecker überzeugt.

Um sich selbst ein Gerüst zu geben, hat er die Dirigierpartituren von Willem Mengelberg studiert, der, seinerzeit Chefdirigent des Concertgebouw-Orchesters Amsterdam, als einer der Ersten Mahlers Sinfonien in die Programme nahm und sich dafür abschnittsweise Metronomangaben notierte. Steinaecker hat sie als Anregung genommen, nicht zur Nachahmung. Doch die beständige Fluktuation beim Tempo schärft die Musik in ihrer Aussage. Besonders dort, wo es ans Sterben geht, am Ende des dritten, erst recht im vierten Satz.

Schwanengesang

Steinaecker hält die Langsamkeit aus, das zunehmende Erstarren, fern aller Klischees, wonach die historische Aufführungspraxis prinzipiell raschere Tempi wähle. Doch beschleunigt er auch immer wieder unerwartet, als rase die Musik auf ein endgültiges Ende zu. Gut ein Jahr nach ihrer Vollendung erlag Mahler 1911 mit 50 Jahren einem Herzleiden; die Neunte wurde postum uraufgeführt, ebenfalls von den Wiener Philharmonikern unter Bruno Walter.

Den Mitschnitt der eigenen Aufführung hatte Steinaecker vorsorglich anfertigen lassen, um die Aufnahme mehreren Plattenfirmen anzubieten. Die Reaktion war ungewöhnlich: Alle wollten sie haben. Den Zuschlag bekam das Label Alpha Classics, das auch Paavo Järvis Einspielungen mit dem Tonhalle-Orchester produziert. Es vereinbarte mit Steinaecker gleich eine weitere Aufnahme. Am 8.September wird das Mahler Academy Orchestra in Toblach deshalb die Fünfte aufführen, ebenfalls im historischen Gewand. Danach geht es auf Tournee in die grossen Konzertsäle, nach Wien, Amsterdam, Köln, Paris. Wie sich einst auch Mahlers Sinfonien ihren Weg aus der Enge des Komponierhäusls in die Welt gebahnt haben.

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Marco Frei

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